Der milde Richter

Der milde Richter war ein gutmütiger Mann. Nie wollte er jemandem etwas Böses tun. Er wollte lediglich für Recht und Gerechtigkeit kämpfen. Er war ein gefragter Richter, beliebt unter den Rechtsanwälten, kritisiert unter den Linksanwälten. Täglich bekam er drei Angeklagte zur Verurteilung, er sprach sie alle frei. Ob das mit seiner Milde oder der Unschuld der Angeklagten zusammenhing, konnte keiner sagen, denn war eine Klage geschlossen, so war sie für immer geschlossen.
An jenem Tag fand die Klage gegen einen gutaussehenden jungen Mann, mit knochigen Gesichtszügen und vollen Backen, statt. Er war einer dieser Männer deren Augen sich leicht verkleinerten wenn er lächelte und er bekam auch Grübchen. Er hatte einen kurzen Bart und seitlich kurze Haare. Oberhalb waren die braunen Haare lang und glänzend, und sie passten gut zu seinen grünen Augen. Ein ausdrucksvoller Blick, der den Richter sofort durchschoss.
"Sie sind hier im Gerichtshof des Lebens der Lebenden", eröffnete der milde Richter, "eines Tages werden sie im Gerichtshof des Lebens der Toten sein, wie ich, und alle Anwälte. Heute aber, sind sie hier. Sind sie damit einverstanden? Nicken sie kurz". Der Angeklagte setzte einen ernsten Blick auf und zog sein Jackett aus, nickte kurz und strich sich durch die Haare. "Lieber Herr Linksanwalt, lesen sie die Klage", hämmerte der Richter und sah dabei zu seiner Linken. Dort tuschelten ein paar Anwälte und einer, der vermutlich auch der Anführer der Meute war, stand mit einem Pergament auf: "Die Klage lautet Ehebruch. Verklagt durch seine Frau, verklagt auf lebenslange Gefangenschaft, als Beweis der Klage legt sie ihr Herz vor". Der Richter wandte sich den Zuschauern im Saal zu, "so erhebe dich". Eine hübsche Frau erhob sich, "mein gebrochenes Herz lege ich vor", korrigierte sie den Linksanwalt und setzte sich langsam und leise wieder nieder.
"Möchten sie aussagen, Angeklagter?", fragte der milde Richter seine Pflicht erfüllend.
"Ich", begann der Angeklagte, "möchte nicht aussagen, mein Rechtsanwalt wird das für mich übernehmen".
"So schweigen sie", sagte der Richter und warf einen strengen Blick nach rechts, "das ist ihr gutes Recht". Unter leisem Gewinsel im dunklen Saal - vermutlich der Ehefrau des Angeklagten zuzuordnen - rief der Richter eine Frau als Zeugin auf. Das Klopfen ihrer Schuhe, verursachte einen Lärm und ließ die Kerzen flackern. Sie hatte lange dunkle Haare und volle weiche Lippen. Leicht rote Wangen und einen schlanken und doch runden Körper. Eine Frau wie die Mutter Eva.
"Sie sind als Zeugin geladen, sie kennen die Schuld des Angeklagten?", dabei musste der Richter sich zusammenreißen, Eva nicht in die Augen zu schauen, aus Angst, er würde wieder zu mild sein.
"Ich kenne die Unschuld des Mannes. In der Selbstverständlichkeit seines Handelns, mich zu lieben und der versuchten Tötung seiner Frau, sehe ich keine Schuld, sondern Selbstverständlichkeit", war die Aussage, während die Frau des Angeklagten noch lauter winselte, vielleicht schon weinte, dann fügte die Evafrau hinzu, "aber sie war standhaft - starb nicht".
Der Linksanwalt hob die Hand, beflüsterte sich mit dem Richter und meldete sich dann zu Wort, "haben wir irgendwelche Hinweise auf Mord in der Akte des Angeklagten"?
Der Richter ließ die Frau sich wieder setzen und musste sich seiner Schaulust widersetzen. "Hiermit rufe ich den Bruder des Angeklagten als Zeugen auf", hämmerte er. Der Rechtsanwalt kicherte unterdessen mit dem Angeklagten. Der arme Tropf, der jetzt aus den Zuschauerplätzen heraustrat, konnte wohl kaum der Bruder des Angeklagten sein. Er hatte buschige Augenbrauen, lange zerzauste Haare und einen langen wirren Bart. Seine Statur war im Gegensatz zu der seines Bruder nur knochig, sein Gesicht war heruntergekommen und letztlich war er zwei Köpfe kleiner als der Schönling.
"Sie haben eine Aussage über Morde zu treffen?", fragte der Richter.
"Ja, Herr Richter".
"So sprechen sie", übergab der Richter das Wort. "Mein Bruder - ich weiß wir waren noch ziemlich klein - hat meine Fische getötet".
Der Rechtsanwalt des Angeklagten warf sofort ein: "Und jung, nicht zu vergessen. Sie beide waren auch jung"!
Der Richter sah den Linksanwalt an, woraufhin dieser sprach: "Das ist egal, Herr Kollege. Obwohl der Mord an diese Fische Teil eines anderen Prozesses sein mag - ich finde zwar nichts in meinen Unterlagen, vermutlich fand nämlich keine Klage statt - empfinde ich die Sache als ausschlaggebend. Dieser Mann zeigt keine Scheu zu töten. Weder emotional, noch real. Meines Erachtens nach schuldig".
Der milde Richter bedankte sich beim Linksanwalt und schickte den Bruder zurück zu den Zuschauern.
"Ich möchte das Urteil verkünden, erheben sie sich bitte", während alle sich erhoben fuhr er fort, "der Angeklagte wird im Anbetracht seiner Klagen frei gesprochen. Im Rahmen der Selbstverständlichkeit seiner Handlung, der Verzeihung von Kindesfehlern und dem Neid des Bruders aufgrund Schönheit, möchte ich dem Angeklagten Milde zeigen".
Wenige waren überrascht und dennoch fanden sie Logik im Urteil. Doch dann erhob sich der Bruder des Angeklagten: "Bist du wirklich mild oder nur leicht zu täuschen"?
Solche Worte waren im Gerichtshof des Lebens der Lebenden nicht verzeihlich und der arme Mann geriet in die Strafe die sein Bruder hätte leben müssen, wenn er für schuldig erklärt worden wäre.

"Der milde Richter" ist online! Viel Spaß beim Lesen! Kritik, Feedback, Anregungen, Interpretationen - wie immer, alles erwünscht :)
Posted by Ikdrawingz on Sonntag, 13. März 2016