Der Werwolf

Es war eine kleine Hütte, in der Wolfgang seine Nacht verbringen wollte. Zumindest dachte er das, als er zwischen Gebüsch und Bäumen das mehrstöckige Holzhaus nicht vollständig erkannte. Er hatte lediglich die Lichter am Fenster gesehen und gedacht, es war ein kleines Häuschen und umso froher war der junge Reisende dann, als sich herausstellte, dass es sich um eine Herberge handelte. Die Nacht war recht hell, im Schein eines schönen Mondes, schimmerten die Blätter dunstig und verliehen Wolfgang eine Kraftlosigkeit - keine schlechte, sondern eine gemütliche. So würde er sicher besser schlafen, wenn er gleich in die Stube eintrat, bezahlte, und sich dann auf sein Federbett warf. Doch wie so oft im Leben, läuft nicht alles nach Plan - eigentlich läuft gar nichts nach Plan: Als er eintrat und die Frau links an der Theke ansprach, bekam er nur eine stumpfe Antwort, es sei kein Zimmer mehr frei, als Wolfgang einwenden wollte erwiderte sie gleich: Nein, auch der Keller ist voll. So, Wolfgang hob die Augenbrauen, es ist wirklich nichts frei? Nein, alles ist besetzt, die Frau kramte dabei in irgendwelchen alten Papieren herum, auf denen unleserliche Handschriften zu sehen waren. Dann muss das Schild draußen abgehängt werden, protestierte Wolfgang, Warum denn, war die Antwort. Es sagt es sei eine Herberge hier, Sind wir doch, Nein, so verspüre ich das nicht, Und doch sind wir eine Herberge. Die Frau war völlig sachlich geblieben, Wolfgang dagegen seufzte aus Ärger vor der Situation, Und was soll ich jetzt tun? Finden sie eine andere Herberge.
Es trat ein älterer Herr mit Vollbart dazu, Was ist denn los, was soll die Unruhe? Der junge Herr möchte nicht verstehen, dass das eine Herberge ist, Nein, Moment, das habe ich verstanden, es geht mir nur darum, dass hier kein Schlafplatz ist! Sechs Herbergen gibt es im Osten, Ich kommen von Östlich, aber diese hier habe ich mir ausgesucht! Nun kam der alte Mann zu Wort, Er kann jetzt nicht zurück, Töchterchen, es ist Vollmond heute, Ich weiß, und Brüderchen ist nicht zurück, Soll er bleiben wo er ist, der alte Hund. Als Wolfgang räusperte um die kleine Zwischenunterhaltung zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, drehten sich Vater und Tochter mit großen Augen zu ihm. Jedenfalls ihr Schlafplatz, junger Herr, so der Mann wieder, wird dann wohl hier unten mit mir sein, Meinen sie hier, am Kamin? Jawohl, kommen sie, kommen sie, hier ist warme Milch und das ist mein Rundtisch. Es waren ein paar weitere alte Herren am Tisch, vermutlich war der Mann der Besitzer der Herberge und diese Leute waren seine Freunde, die Herberge musste so voll sein, dass weder er ein eigenes Zimmer hatte, noch seinen Freunden eins übrig geblieben war.
Ist das ihre Tochter an der Theke, Ja, sie ist eine gute Empfängerin, Wolfgang wollte nicht frech sein, zumal der Mann sehr freundlich zu ihm war und deshalb nickte er nur und fragte dann, Wo schlafen wir? Na, hier unten, ich packe den Tisch gleich weg, aber nun zu ihnen, wer sind sie, woher kommen sie, Ja, wer in Teufels Namen sind sie, dass sie nachts bei Vollmond hier aufkreuzen können, meldete sich einer der Freunde des alten Mannes, sie waren alle am eben benannten Rundtisch und tranken Bier. Ist das Bier? Nein, ist Apfelschorle, lachte der Freund laut. Nun, trinken sie erstmal die Milch, das öffnet den Knoten der Zunge und wärmt den Hals vorm Schlafengehen, so wieder alte Mann, der ihn zu Tisch eingeladen hatte. Wolfgang trank nicht, sondern ließ den Kopf auf seine verschränkten Arme fallen, erst jetzt bemerkte er, wie niedrig der Tisch war. Nun wenn der Junge nicht reden will und meine Frage, wer er denn sei, nicht beantworten kann, erzähle ich da weiter, wo wir aufgehört haben, Freunde. Wolfgang war so müde, dass er kurz vor dem Einschlafen war, als der Mann begann zu erzählen, da seine Stimme aber recht krächzend war, verstand er jedes Wort. Und dann bin ich, und dann bin ich, und dann hier, und da, und hier. Wolfgang sah ein, dass das Einschlafen der Unmöglichkeit nahe war und griff deshalb nach der Milch, der Kopf war bis er das warme Glas zu sich gezogen hatte, immer noch auf den Armen. Erst reckend und streckend, wie als wäre er wirklich eingeschlafen, hob er den Kopf und starrte kurz in die Leere, bevor er das große Bierglas an den Mund hielt.
Für eine Herberge war das Haus doch ziemlich klein, das erklärte seine Verwechslung. Die Fenster waren in der Höhe des Kopfes eines Menschen - klein und schmal, sie waren geschmückt mit Blümchen, aber die Blütenblätter waren braun. So eine Blumenart kannte er nicht, aber sonderlich schön war sie auch nicht, das spiegelte sich aber auch in den Menschen hier wider, beginnend von dem Töchterchen bis hin zu dem Mann, der ihn krampfhaft nach seinem Namen gefragt hatte. Na gut, der Vater des Thekenmädchens war freundlich genug einen Schlafplatz anzubieten und ihn nicht gen Osten zu schicken, aber letztlich wollte er mit ihm am Kamin schlafen, und das konnte nur naive oder absolut hinterhältige Freundlichkeit sein. Als er sich jetzt im Raum umsah wurde ihm langsam klar in was für einer Bruchbude er gelandet war. Der gesamte Raum war - wie die Außenwände selbst - aus dunklem, fast schwarzem Holz. Es gab einige kleine Tische und eine Bar die teilweise für die Buchungen gedacht war - dort wo das Töchterchen stand. Die Wände an der Theke waren voll mit Flaschen, aber es waren eher kleine Medizinfläschchen, und hin und wieder waren Papierrollen oder Kannen im Regal. Dieser Teil des Raumes war der voll, ansonsten gab es an der Wand einige schlechte Gemälde, außerdem gab es ein Hirschskopf über dem Kamin. Der Rundtisch war dem Kamin am nächsten. Dann gab es noch Treppen die ins dunkle Nichts führten, in der Ecke des Raumes an der selben Kante wie der Eingang und die Theke. Eine Treppe führte nach unten und eine andere nach oben.
Werwolf. Das war das entscheidende Wort gewesen um Wolfgangs Aufmerksamkeit zu beziehen. Wie bitte, was? Ja, dann hat er den Werwolf gesehen, Welchen Werwolf, Na, den, von dem ich die ganze Zeit spreche, das Ungeheuer, das Biest. Wolfgang und der Mann der schon die ganze Zeit unentwegt geredet haben musste und Wolfgangs Namen hatte erfahren wollen, sahen sich eine Weile an. Dann trank Wolfgang frech einen Schluck Milch und lächelte, Na gut, erzähle nochmal, ich bin übrigens ein Reisender, Wolfgang der Name. Junger Mann, du hast Glück, dass ich die Geschichte so mag, sonst würde ich nicht nochmal erzählen, ich tue es nicht für dich. Also, das ist letztlich passiert, ein schlimmer Verlust war das, grauenhafter Vorfall, Unfall! Es war eine Vollmondnacht wie diese und das Ungeheuer war einen Kopf größer als er, er ist, naja, ein alter Freund, er war ein alter Freund, so nennen wir ihn mal. Ich weiß nicht, wer oder was ihm das angetan hat, aber sein Bruder war auch dabei als es passierte und der hat es überlebt. Ich glaube ja, es war ein Werwolf und ich verlasse die Herberge heute nicht, nicht bei Vollmond. So, So, Ein Werwolf? Ja, ein Werwolf, Glaubt ihr ihm? Einige unsichere Stimmen begannen sich zu beraten, Ja, sie glauben mir, natürlich glauben sie mir, was sonst, kann einen Menschen so entstellen, Ein Braunbär? Wolfgang grinste. Du hältst dich wohl für witzig, Junge, wenn mein guter alter Freund hier, dich nicht zum Rundtisch geladen hätte - du wärst da draußen der Bestie ausgeliefert. Wie das Brüderchen, hörte man eine andere krächzenden Stimme noch sagen, fast echoartig. Dann trat eine kleine Weile Stille ein. Eine interessante Lage in die du dich gebracht hast, sagte Wolfgang sich selbst. Er war in eine provokative und belustigte Stimmung entstanden und so fragte er in die Runde, Na, was ist denn ein Werwolf? Du weißt nicht was ein Werwolf ist? Naja, ich glaube zumindest nicht, dass es Werwölfe gibt, deshalb frage ich, Du kommst weit vom Osten her, gibt's wohl keine Werwölfe, was? Nein, ich habe noch nie einen gesehen, Na, wir ja auch nicht, Wieso glaubt ihr dann an Werwölfe, Weil wir einen Toten und einen Verletzten haben, zwei Brüder, glaubst du, das passiert einfach so an Vollmond? Ich weiß nicht wieso das passiert, Na, der Kerl dessen Bruder getötet worden war, konnte das Ungeheuer mit einem Schuss seiner Schrotflinte mit Silberkugeln vertreiben, aber da war er schon halb zerissen, ich kenne die Geschichte nicht ganz, ich erzähle nur die Einzelheiten, an die ich mich erinnere, aber wenn du willst - oben ist der Kerl mit zerfleischten Armen und Beinen und gebrochenen Rippen -, kannst du ihn ja fragen, wie das Ding aussah und was es ist. Das hier, - er legte eine silberne Schere auf den Tisch - ist das einzige, womit wir ihn heute töten können. Wolfgang trank die Milch zu Ende, mit was für leichtgläubigen Menschen er doch in einem Raum war! Wieder Stille die er aber unterbrach, Und jetzt sperren wir uns hier ein, es muss doch ein Dorf geben, Ja, wir sind alle aus dem Dorf, wir sind alle hier, oben schlafen unsere Familien, Kinder und Frauen - alle. Ihr habt euch alle hier versteckt? Ja, bis die Nacht vorbei ist, dann gehen wir zurück in das Dorf, jeder in sein Haus. Der Wirt nahm Wolfgang den Becher ab und brachte ihn hinter die Bar, dort waren lauter Becher und Gläser, die man wohl in der Morgenfrühe am Brunnen spülen wollte. Kein Wunder ist die Herberge voll, Ja, deshalb schlafen wir hier unten. Schon wieder Stille.
Der alte Wirt lächelte jetzt, Es freuen sich alle auf Vollmond, vor allem die jungen Leute, die haben ja ihre eigenen Zimmer - ihr eigenes Stockwerk, die Kinder sind bei ihren Müttern und die Alten sind unter sich, es ist ziemlich warm hier, draußen der kalte Wald, ich glaube es ist ein schönes Dorftreffen, stimmt's Töchterchen? Ja, Vater, alle freuen sich hier auf die Vollmondnacht, Und doch fürchten sie manche, so der Wirt wieder auf seinen alten Freund schauend. Ja, ich fürchte sie, Freund, aber hättest du die Leiche gesehen, du hättest diese Nacht auch gefürchtet! Wessen Leiche? An der Tür stand ein Mann, der vollständig verbunden war, Jacke über Jacke hatte er angezogen, zitternd trat er aus der Finsternis, Na die seines Bruders, Aber nicht doch, du bist noch nicht genesen, trat das Töchterchen an den Mann, Komm', komm' ich begleite dich hinauf, du musst schlafen. Sie brachte den vom Werwolf angegriffenen wieder hoch in seine Schlafkabine. Wisst ihr was man noch über Werwölfe sagt? Wolfgang wusste genau was jetzt kommt, wahrscheinlich hatte der Verbundene alle im Raum erschrocken, mit seinen roten Augen und der roten Nase und schweißgebadet wie er war. Man sagt, naja, was glaubt ihr denn, wie man zum Werwolf wird? Nein, keine Ahnung, sagte einer, Und wir wollen es auch nicht wissen, Ich möchte es euch aber sagen. Wolfgang fand das Gespräch lustig, weil er wusste, dass Tragik und Komödie ganz nah beieinander liegen. So traurig die verlorene Lage aller hier war, so lustig war sie. Wie konnten diese dummen Dorfbewohner glauben, dass diese Herberge sie hätte vor einem Werwolf schützen können, wenn die gesamte Hütte - Wolfgang konnte sich sowieso nicht vorstellen wie ein gesamtes Dorf hier reinpassen konnte - aus Holz bestand. Dann versammeln diese Menschen sich immer an Vollmond und weil vermutlich die Zimmer nicht reichen, mischte man alle Menschen nach Alter und quetschte sie in die Zimmer - ein gefundenes Fressen für einen Werwolf, der momentan in Form eines verletzten Mannes, sobald seine Uhrzeit eintrifft, ein Massaker anrichten würde. Als hätten alle das Gleiche gedacht, drehten sich die Köpfe nun zu den finsteren Treppen, Das muss ein Werwolf sein, wir müssen einen hinaufschicken, er muss nach unseren Kindern und Frauen sehen, Und nach meiner Tochter, so der völlig zerstreute Wirt dazu. Nach heftigen Gemurmel und Beraten, waren sich die alten Männer einig, Du wirst nachsehen, Wer, Du, du bist ein Fremder! Hätte Wolfgang nicht an das Gute im Wirt geglaubt, er hätte diese Entscheidung voraussehen können. Er hätte auch einen Streit auslösen können und den einen oder anderen dieser Greise wohl zu Boden gestampft, er wäre gegen sie alle angekommen, aber angesichts der Tatsache, dass er seinen Dank in keiner anderen Weise zeigen konnte und er draußen vermutlich einen weiteren Werwolf als Gegner hätte, der durch Kampfgejaule in den Zimmern, sowieso angelockt worden wäre, stellte er sich der Entscheidung der Männer und stand auf.
Das erinnert mich an den Mann mit der Silberschere, sagte einer unter ihnen, Wolfgang war verwirrt aber hörte schon nicht mehr zu sondern nahm die Silberschere an sich. Der Mann mit der Silberschere war ein Mann aus dem Dorf gewesen, der mit nichts außer eben dieser Schere, gegen einen solchen Werwolf kämpfen musste. Er hatte 'tapfer' gekämpft sagten sie, denn die Schere als Mörder seines Selbst, war ihm weniger schmerzhaft, als die Zähne eines grauen Ungetümes. Einen tiefen Schnitt hatte er sich in den Hals verpasst, sein Blick blieb völlig starre. Manche Dorfbewohner meinen, er hätte den Wolf gesehen und das war sein letzter Blick gewesen, andere sagen, dass das die Strafe für den Selbstmord war und die letzten meinten, er hatte sie vor Schmerz weit geöffnet, bevor er starb. Wolfgang glaubte keiner Variante, sondern hatte nur Tollmut, jemanden oder etwas zu erlegen.

Die Abholung

Eine wunderschöne hoffnungsvolle Frau. Sie war jung und in ihren besten Jahren. Niemals hätte die alte Frau Mauerblume, die am Fenster gegenüber zu ihr runterstarrte, gedacht, dass ein so junges unschuldiges Mädchen um diese Uhrzeit noch draußen am Straßenrand wartete.
Dumpforangene Lichter verliehen der Straße einen mysteriösen Hauch. Das Fräulein öffnete ihre Augen weit, als ein Licht näher kam. Dann hielt der Wagen direkt vor ihr an.
Ein Mann, etwa in ihrem Alter, sah sie eine gefühlte Weile an. Dann grüßte er: "Guten Abend, Fräulein."
Sie sah noch einmal zum Fenster der Frau Mauerblume auf und antwortete dann: "Guten Abend, sind Sie der Fahrer des Wagens der mich abholen soll?"
Der Mann hob verwundert die Augenbrauen und stülpte seine Unterlippe über die Oberlippe. Dann verwandelte sich sein Gesicht in ein lächelndes, "ich weiß nicht, aber möchten sie nicht in den Wagen"?
 Das junge Fräulein, sichtlich verwirrt, stieg in den Wagen.
"Es sollte ein Wagen kommen und mich abholen, genau zu dieser Stunde, aber jetzt sind sie da, deshalb habe ich gefragt ob Sie das nicht vielleicht sein könnten", erklärte das Fräulein, um nicht wie eine Verrückte dazustehen.
"So", runzelte der Mann sich die Stirn, "nun, ich weiß nicht, ob ich diese Person bin, die in dem Wagen sitzen soll, der sie abholt".
"Naja, eigentlich ist die Antwort doch ganz einfach, Sie müssen mir nur sagen, ob Sie den Auftrag hatten, zu dieser Stunde, an diesem Ort, ein Fräulein abzuholen".
Der Mann hob wieder die Augenbauen, "ich glaube", dann zögerte er kurz und sah zum Fenster der alten Frau Mauerblume hoch, "ganz so einfach ist das nicht".
Das Fräulein antwortete gelassen, aber ein leiser Ton von Protest war unverkennbar: "Ich verstehe nicht ganz, was das Problem sein soll. Es geht nur um die Bestimmung, ob sie der Wagen sind, auf den ich gewartet habe!"
"Wie ich schon sagte", wiederholte sich der Mann, "ganz so einfach ist das nicht".
Das Fräulein wollte ihre Gereiztheit darauf, keine richtige Antwort erhalten zu haben, hervorheben. Dann aber dachte sie, dass sie vielleicht nicht damenhaft genug gefragt hatte. "Wieso, Herr Abholer, ist das Problem nicht so einfach? Können Sie mir das sagen?"

Der Mann schaute sie entsetzt an, "wir Menschen urteilen doch viel zu schnell, finden sie nicht?"
Die Frage des Fräuleins war immer noch unbeantwortet, "wieso können sie nicht einfach auf meine Frage antworten"?
Der Mann schaute auf die Straße: "Wir geraten mehr und mehr in ein Meer der Fragen, deren Antwort, die nunmal auf sich warten lassen möchte, nur noch mehr Fragen aufwirft. Die Beantwortung einzelner Fragen wird demnach immer schwieriger. Warum ich so entsetzt bin? Das wiederum ist einfach zu beantworten. Sie nennen mich 'Herr Abholer', obwohl Sie nicht wissen, ob ich der Abholer bin. Deshalb habe ich auch eben, das mit dem Urteilen gesagt."
Das Fräulein war wieder erregt, fragte dann: "Wie soll ich sie denn nennen, wenn Sie nicht sagen, wer sie sind und ich davon ausgehen muss, dass Sie irgendwer sind? In diesem Fall, habe ich sie Abholer genannt. Ich habe keine einzige Frage beantwortet bekommen, deshalb erfand ich mir Antworten und stellte die nächsten Fragen."
Der Mann hatte schon fast aufgegeben, "schon wieder haben sie eine Frage gestellt, vielleicht sollte ich ihnen auch sagen, dass ihre erfundenen Antworten, nur ein Abbild dessen sind, was Sie gerne zur Antwort hätten. Ich habe mich nicht vorgestellt, weil sie nicht direkt nach meiner Person gefragt haben, sondern eher danach, ob ich der Abholer sei. Sie bauen sich ein Bild der Weltgeschichte auf, das so nicht stimmen kann. Und wenn es doch stimmt, dann vielleicht zufällig".
Das Fräulein versuchte sich abzuregen und dem Gespräch noch eine letzte Möglichkeit zu geben, ein sinnvolles Ergebnis zustande zu bringen. Sie strich sich die Haare hinter ihr Ohr, lächelte noch einmal so nett sie konnte und sah den Mann an: "Also gut, Herr Abholer, und ich nenne Sie nur so, weil ich mir dieses Bild von ihnen aufgebaut habe. Wie hätte ich denn ihrer Meinung nach vorgehen sollen, da sie, wie es scheint, alles besser wissen? Und dazu noch in der Machtposition stehen, die Sie durch einen dummen Zufall erhalten haben."
Der Mann lachte kurz, natürlich wusste er, dass das junge Fräulein gereizt war. Er wollte aber nicht Klarheit geben, sondern nur tiefer in die Wunde drücken. Dies, teils aus seinen Prinzipien, die eben sagten, das Falsches und Unvollständiges keine Bedeutung hatte, teils aus dem Grund, dass das Fräulein sehr attraktiv war und er selten längere Gespräche mit Frauen wie diesen hatte. Dann auch noch in einer solchen Machtposition. Er zügelte sich jedoch, zumal er die Rolle des Abholers gut besetzen wollte: "Sie haben mir wieder eine Frage gestellt, wieder sind Sie wider meiner Prinzipien auf mich zugegangen, als sei ich 'Herr Abholer'. Alles was Sie tun, ist wider Logik und wider meiner Lust, Ihnen überhaupt noch etwas zu verraten. Aber gut, lassen Sie mich das Problem aus einer sachlichen Lage beantworten. Nämlich aus der, der Frau am Fenster, die uns lange schon beobachtet. Aus ihrer Sicht bin ich jedenfalls der Abholer, finden sie nicht? Ich könnte es auch nicht sein, aber das Einsteigen ihrerseits in den Wagen, ohne sicher zu sein, dass ich der Abholer war, hat dieser Frau so gut wie versichert, dass ich der Abholer bin. So ist es möglicherweise nur eine Frage der Perspektive, ob ich der Abholer bin oder nicht. Vielleicht sind ja sie der Abholer? In einer anderen Sichtweise. Jedoch, da ich nicht so sein will und nun über die Philosophie des Abholens reden möchte, will ich ihnen die Beantwortung der Frage, um ein vielfaches erleichtern, auch wenn ich sie nicht beantworten werde. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, ob ich der Abholer bin".
Die Frau war erst verwundert und wusste nicht was sie sagen sollte. Dann aber begann sie zu verstehen, dass sich der Mann wahrscheinlich lustig über sie machen wollte und antwortete entschlossener als zuvor: "Nun eigentlich ist das ganz einfach. Sie müssen lediglich sagen, ob sie den Auftrag hatten, mich abzuholen".
Schon erwidertete der Mann, "dazu muss man das Wesen eines Auftrages -". Er wurde jedoch unterbrochen von der nun selbstsicheren Frau, die seinen Satz fortführte, "dazu muss man das Wesen eines Auftrages betrachten, richtig? Ein Auftrag kann vom Leben oder einer gewöhnlichen Person gegeben worden sein. In diesem Fall möchten sie sagen, dass ihr Auftrag durch das Leben gegeben ist. Deshalb können sie auch nicht direkt sagen, ob es überhaupt ein Auftrag ist. Der Auftraggeber ist so unbestimmt, dass sie mir keine vernünftige Antwort geben können."
"Genau so ist es", sagte der Abholer, "und es liegt keinerlei Absurdität in dieser Vorstellung, denn je nach philosophischer Sichtweise, ist mein Auftraggeber letztendlich sowieso das Leben. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich einen menschlichen Vertreter erwählt hat um mir dies mitzuteilen."
Er sah das Fräulein lächelnd an. "Sie sind müde?", fragte diese, als mache sie sich Sorgen um ihn. Sie glaubte immer mehr der nicht bestätigten Tatsache, dass dieser Mann, wirklich der Abholer sein könnte.
Er gähnte unterdessen und sagte dabei: "Nein, nein", sein erstes Nein aber war durch das Gähnen kaum verständlich,"ich bin wach, hellwach."
Nun grinste die Frau, als hätte sie einen Sieg davongetragen. Sie hatte nämlich den Mann dabei erwischt, wie er die Beantwortung einer Frage verfälscht hatte: "Ich habe sie gefragt, ob sie müde sind, nicht ob sie schlafen."
Der Mann lächelte wieder und dabei unterdrückte ein weiteres Gähnen.
"Wenn", sagte er, "ich der Abholer bin", und er machte deutlich, eine beende Aussage treffen zu wollen, "dann sind Sie die Abgeholte, richtig? Aber was spielt es für eine Rolle, ob ich der Abholer bin oder nicht, wenn sie es so sehen? Möglicherweise bin ich ein Lügner und sie sind jemand, die Lügen in Wahrheiten verwandelt, indem sie ihnen glaubt. Aber dies tun sie bewusst, fast, als seien sie bewusst naiv. Wenn man es ganz streng nimmt, haben wir uns eine kleine Welt geformt, wie wir sie gerne hätten. Die alte Frau am Fenster hat sich eine ganz andere gebaut, falls sie aber die selbe Welt geformt hat, dann waren wir entweder zu offensichtlich oder die Frau hat einen messerscharfen Verstand".
Die junge Frau hob die Augenbrauen und stülpte die Unterlippe über die Oberlippe, dann verwandelte sich ihr Gesicht in ein lächelndes: "Vielleicht ist all das wahr. Vielleicht aber, habe ich keinen blassen Schimmer von alledem, was sie hier reden und vertraue ihnen auch kein Bisschen".
Sie lehnte ihren Kopf auf seine Schulter. Er wiederum fühlte sich erstmals bestätigt und antwortete: "Endlich bewegen wir uns auf derselben Ebene", streichelte daraufhin ihren Kopf und sah nach, ob die alte Frau Mauerblume, das mittlerweile romantische Treffen, die Abholung, beobachte.
Plötzlich ratterte ein anderer Wagen gleich neben ihnen. Er hielt kurz an und rauschte dann weiter.

Es war eine Stunde vergangen, seit die junge Frau in den Wagen gestiegen war. Eine Stunde hatten die beiden miteinander geredet und Zeit verbracht. Er sah nach der jungen Frau, die müde ihre Augen geschlossen hatte und mit den Händen, seine Jacke festhielt.
"Ist etwas?", fragte sie. Er wollte natürlich nicht sagen, dass gerade ein anderer Wagen vorbeigefahren war, den sie nicht bemerkt hatte. Es war nämlich nicht ausgeschlossen, dass dieser Wagen dem wirklichen Abholer gehören könnte.
Zumal man zu der Verteidigung des Mannes sagen musste, dass dieser vermeintliche Abholer eine Stunde später kam, als offenbar mit der Frau abgemacht. Deshalb konnte das auch ein Zufall gewesen sein, wie der Zufall, der ihn hierher her brachte. Und trotzdem, konnte niemand beweisen oder widerlegen, das er nicht der Abholer war.
"Es ist nichts", sagte er beruhigend und streichelte weiter ihren Kopf, bevor die beiden nach einer Weile losfuhren und lange nichts mehr war, außer dass die alte Frau Mauerblume am Fenster. So starr, dass man von ihr behaupten könnte, sie sei nur der Schatten einer Vase mit Blumen darin, die so ungeschickt hingestellt worden war, dass Sie den Formen eines Menschen sehr ähnelten.