Gandhis Brief an Hitler - analysiert

Der Zweite Weltkrieg ist unbestritten einer der tragischsten und verheerendsten Kriege der Menschheitsgeschichte. Er beginnt am 1. September. 1939 mit dem Angriff des Deutschen Reiches auf Polen. Mit 70 Millionen Kriegsopfern, dem Holocaust, einem Atombombenabwurf und zahllosen Kriegsverbrechen, stellt sich natürlich unweigerlich die Frage: Hätte der Zweite Weltkrieg verhindert werden können?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber was ich dennoch sagen kann ist: Viele Menschen versuchten ihn aufzuhalten. Darunter z.B. Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Mahatma Gandhi. Richtig gelesen. Mahatma Gandhi.
Der pazifistische Revolutionär schrieb Adolf Hitler wenige Wochen vor dem deutschen Kriegsbeginn einen Brief, wobei man sagen muss, dass zu diesem Zeitpunkt in der Mandschurei bereits einiges los war. Dennoch: In diesem Artikel möchte ich das Schreiben Gandhis für euch analysieren.


Allgemein

Ein paar Dinge vorne weg: Der Brief wird mit der deutschen Übersetzung analysiert. Damit kann die Intensität einiger Aussagen entkräftet werden. Gleichzeitig geht die Würze der Verfassungssprache verloren. Außerdem ist das englische "You" nicht direkt mit einem deutschen "Du" oder "Ihr" zu übersetzen. Es kann sich nämlich um beides handeln. In dieser Übersetzung gehe ich allerdings davon aus, dass Gandhi Hitler mit "Ihr" anspricht, auch wenn ich lange darüber nachgedacht habe, ob er nicht vielleicht "Du" zu Hitler gesagt hätte. Schließlich benennt er ihn auch als "Freund". Außerdem bin ich weder Linguist noch Psychologe, und betrachte den Brief deshalb aus einer sehr subjektiven Perspektive.



Originalbrief

Hitler_Brief
Foto vom Originalbrief, Bild aus elephantjournal.


Übersetzung

"Lieber Freund,
Bekannte haben mich gedrängt, Sie im Namen der Menschlichkeit anzuschreiben. Lange bin ich dieser Bitte nicht nachgekommen, weil ich glaubte, ein Brief von mir könnte als anmaßend empfunden werden. Irgendwas sagt mir, dass ich nicht rechnen darf und dass ich meinen Appell machen muss, was immer es auch kostet.
Offensichtlich sind Sie unter allen Menschen allein in der Lage, einen Krieg zu verhindern, der die Menschheit in den Zustand der Barbarei zurückwerfen würde. Müssen Sie unbedingt diesen Preis für Ihr Ziel bezahlen, und wenn es Ihnen noch so erstrebenswert erscheint? Wollen Sie nicht auf einen Menschen hören, der nicht ohne beachtlichen Erfolg die Methode des Krieges immer abgelehnt hat? Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben, bitte ich Sie um Verzeihung für dieses Schreiben.

Ihr aufrichtiger Freund

M.K. Gandhi"


Los geht's

Was mir sofort auffällt ist die Länge, oder eher gesagt, die Kürze des Briefes. Die englische Version hat 135 Wörter und ist damit so lang wie ein ordentlicher Abstract. Diese Tatsache zeigt, dass der Schreiber nicht allzu viele Wörter benötigte um seinen Appell zu vermitteln.
Die Anrede lässt bereits viel Spielraum für Interpretationen. Was bedeutet "Lieber Freund" in diesem Kontext? Ich denke, Gandhi spricht Hitler einfach auf der selben Wellenlänge an. Er ordnet sich weder unter, noch stellt er sich auf eine höhere geistige Ebene.
Die Ansprache mit "Freund" ist auch der Grund warum der Brief nie bei Hitler ankam. Die indische Regierung ließ das Schreiben nämlich nicht raus. Gandhi erklärte Hitler in einem späteren Brief: “Dass ich Sie als Freund bezeichne ist keine Formalität. Ich habe keine Feinde. Wir zweifeln nicht an Ihrer Tapferkeit, Ihrer Hingabe an Ihr Vaterland, noch glauben wir, dass Sie das Monster sind, als das Ihre Gegner Sie beschreiben.” Ich kann aber ebenso nicht sagen, ob wenigstens dieser Brief jemals beim Empfänger ankam.
Doch machen wir weiter mit dem Vorherigen: "Bekannte haben mich gedrängt, Sie im Namen der Menschlichkeit anzuschreiben. Lange bin ich dieser Bitte nicht nachgekommen, weil ich glaubte, ein Brief von mir könnte als anmaßend empfunden werden." Im ersten Satz macht Gandhi Hitler also klar, dass er eigentlich nicht schreiben wollte, sondern nur durch Bitten seiner Freunde dazu kam - eine Überordnung gegenüber dem Diktator. Gleich daraufhin ordnet er sich aber unter, indem er behauptet sein Brief könnte für Hitler eine "Anmaßung" sein. Ein schmeichelnder Beginn scheint hier die Strategie. Vielleicht wollte er so an das "Herz des Biests" kommen.
Der nächste Satz war wirklich schwer zu übersetzen und kann auch verschiedenartig übersetzt werden. "Irgendwas sagt mir, dass ich nicht rechnen darf und dass ich meinen Appell machen muss, was immer es auch kostet". Gandhi schreibt, er "dürfte nicht rechnen". Will er damit sagen, dass das Schreiben mehr eine intuitive als rationale Absicht birgt? Fühlt er sich deshalb verpflichtet, Hitler zu schreiben? Weil er keine andere Lösung mehr sieht? Weil er seinem Herzen folgt und mutig dem Tyrann gegenüber tritt? Meine bescheidene Meinung dazu: Ja. Gerade die Aussage, er dürfte nicht rechnen unterstreicht das.
Im zweiten Absatz hört Gandhi auf über seine Gefühle zu reden und beschränkt sich auf den wahren Inhalt des Briefes. "Offensichtlich sind Sie unter allen Menschen allein in der Lage, einen Krieg zu verhindern, der die Menschheit in den Zustand der Barbarei zurückwerfen würde". Schon wieder stellt er den deutschen Diktator höher als sich selbst, und diesmal sogar höher als alle anderen Menschen.
Er wäre so etwas wie ein Held - der einzige der einen Krieg noch verhindern könnte! Doch dies kann nicht nur rohe Schmeichelei sein, sondern es ist vermutlich ein ernsthafter Ruf an Adolf Hitler und dessen Gewissen. Er maßt ihm eine hohe Verantwortung zu. Wenn Hitlers "gute Seite" fehlschlage, trage er die Schuld an einem Krieg, der die Menschheit sehr viel kosten könnte. Ein jeder Leser dieses Briefes, der sich im ersten Moment geschmeichelt fühlt, würde im zweiten Moment eine große Last an Verantwortung verspüren. Natürlich kann ich nicht mit Gewissheit sagen, was Hitler verspürt hätte. Aber das Ziel Hitler von seiner Sache abzubringen, oder es zu versuchen ist sehr taktisch in einen Satz gepackt worden.
Und es geht weiter mit der Formulierung: "Müssen Sie unbedingt diesen Preis für Ihr Ziel bezahlen, und wenn es Ihnen noch so erstrebenswert erscheint ?". Dieser Satz scheint anfangs nur ein betonendes Echo des vorherigen zu sein. Im Sinne von: "Adolf, bist du dir sicher? Willst du es wirklich tun? Ist es das wirklich wert"? Anschließend versucht er aber neu zu manipulieren, sein Ziel habe einen "Preis". Er müsse also etwas dafür bezahlen, so erstrebenswert es auch sei. Oder in anderen Worten: "Es hat auch Nachteile, Adolf. Denke nochmal darüber nach"!
Nun kommt ein extrem wichtiges Detail: Der Abstand zwischen der Frage und des Fragezeichens. Es kann sich wohl kaum um einen Leichtsinns- oder Schreibfehler handeln - dafür erwarte ich viel mehr von einem weltbewegenden Revolutionär. Und Ihr sicher auch. Es handelt sich um eine lautere Aussage und das Herz des Briefes. Den Appell. Die zentrale Frage an Hitler. Hätte er ihn je gelesen, wäre er auf alle Fälle darüber gestolpert.
Im nächsten Satz erhebt Gandhi seine eigene Persönlichkeit und spielt auf seine gewaltfreien Siege an. "Wollen Sie nicht auf einen Menschen hören, der nicht ohne beachtlichen Erfolg die Methode des Krieges immer abgelehnt hat?" - hier steckt keinerlei Bescheidenheit, sondern der Aufruf an Hitler, er könne auch ohne einen Krieg sein Ziel, oder zumindest einen Erfolg, erreichen. Gandhi selbst habe es ja auch geschafft.
"Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben, bitte ich Sie um Verzeihung für dieses Schreiben". Der letzte Satz ist eine goldene Mischung zwischen der anfänglichen Schmeichelei und der darauffolgenden Lastübertragung. Wenn er sich in Hitler gettäuscht habe - das heißt, wenn Hitler sich als "schlechter" erweist, als Gandhi annahm, erbittet dieser seine Verzeihung. Im Englischen klingt das intensiver als ein einfaches "Sorry". Nämlich "I anticipate your forgiveness". Dieser Satz ist die zweite und letzte Frage im Brief, dann kommt der Inder zum Abschluss. "Ihr aufrichtiger Freund". Einfache Formalität? Oder ein beabsichtigtes Schließen des Briefes. Es klingt fast wie ein Kreis zum anfänglichen "Freund". Alle Menschen sind Freunde.

Hitler_Brief
Gandhi und Hitler, Bild aus lettersofnote.

Fazit

Meine Meinung zu dieser Interpretation, die ich hier nach bestem Wissen und Gewissen verfasst habe, ist, dass sie keine Zufallsformulierungen enthält. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Gandhi viele Stunden für diesen Brief gebraucht hat. Alleine schon das Aufbringen des Mutes ihn zu schreiben, müsste einige Tage gedauert haben. Keine einzige Formulierung und kein einziges Leerzeichen können unbeabsichtigt eingesetzt worden sein. 
Gandhi hat meines Erachtens nach, Hitler durch kleinere Schmeicheleien und einer Belastung mit Verantwortung dazu bringen wollen abzulassen. Ich wähle bewusst das Wort Schmeichelei, da es sich hier um nichts anderes als das handelt. 
Konfuzius sagte: "Glatte Worte und schmeichelnde Mienen vereinen sich selten mit einem anständigen Charakter."
Und auch in diesem Fall trifft es zu, wenn man Hitler als - aus seiner eigenen Sicht - guten Zielverfolger sieht. Es wird lediglich versucht, ihn von seinem Ziel abzubringen. Und zwar durch einen manipulierenden Brief. Ich behaupte nicht, dass Gandhi keinen anständigen Charakter besaß, sondern nur, dass er in seinem Schreiben, Hitler durch eine geschickte Art und Weise von seinem Vorhaben abkommen lassen wollte. Dazu hat er auch alle Mittel benutzt. Lese gerne den Brief nochmal durch!


Was denkst du?

Doch was denkst du über den Brief und wie findest du die Interpretation? In welchen Punkten stimmst du mir zu, und ich welchen Punkten hältst du mich für idiotisch und überspitzt? Falls du im Bereich Linguistik oder Psychologie tätig bist, und einige Deutungen verfeinern oder ergänzen möchtest - sehr gerne! Nicht scheu nur deine persönliche Meinung loswerden willst: Kommentiere  im zugehörigen Facebook-Post und sag' mir deine Meinung, und erfahre die Meinungen anderer. Ich freue mich auf dich:



Der neue Sonntagsbeitrag ist online! Dieses Mal handelt es sich um eine Analyse des Briefes den der Friedensrevolutionär Gandhi seiner Zeit Adolf Hitler sandte.
Posted by Ikdrawingz on Sonntag, 20. Dezember 2015



Quellenverzeichnis:

Der zweite Brief an Hitler - pi-news
Teile der Übersetzung - Die Welt